Die Leiterin unserer Beratungseinrichtung, Andrea Vogt-Bolm, im Interview mit Christa Münch (oberschenkelamputiert)
GG: Man sieht neuerdings in den Medien immer wieder amputierte Sportler, die Hochleistungen vollbringen.
CM: Ja, es ist einerseits eine erfreuliche Entwicklung, dass Menschen mit einer Amputation jetzt häufiger gezeigt werden …
AV : … aber andererseits wecken diese Bilder bei anderen Menschen mit Amputation vollkommen falsche Hoffnungen.
GG: Bitte erläutern Sie das genauer.
CM: Bei den Sportprothesen, die diese Sportler tragen, handelt es sich um Hochleistungsprothesen für Menschen mit Hochleistungspotential. Außerdem sind diese Prothesen finanziell nahezu unerschwinglich.
AV: Das Bild, das damit gezeichnet wird, entspricht nicht der Realität. Bei vielen Menschen, denen ein Bein oder Arm amputiert werden muss, liegen Grunderkrankungen vor, die allein schon viele Sportarten unmöglich machen.
GG: Aber es gibt doch mittlerweile Prothesen, für den Alltag, die den Menschen ein uneingeschränktes Leben bieten…
CM: Das stimmt nur zum Teil. Wer vor einer Amputation nicht beweglich und mobil war, wird es durch eine High-Tech-Prothese auch nicht sein.
AV: Hier zeigt sich auch der gravierende Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Häufig werde ich von Menschen mit Amputation gebeten, mich für die beste und teuerste Prothesenversorgung bei der Krankenkasse einzusetzen.
GG: Das ist sicher durch den Wunsch begründet, nach einer Amputation schnell wieder am Leben teilnehmen zu können.
AV: Selbstverständlich! Hier sehen wir ja auch unsere Hauptaufgabe – Menschen nach erfolgter Amputation wieder mobil zu machen und zu integrieren. Die Erfahrung zeigt aber, dass nicht immer das Beste gerade gut genug ist, sondern nur und ausschließlich das, was realistisch ist und zum jeweiligen Menschen passt.
CM: Es ist natürlich nachzuvollziehen, dass Menschen mit Amputation auf Hochleistungsprothesen spekulieren. Oft kommt auch erschwerend hinzu, dass Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten schlichtweg fehlen.
AV: Wenn ein Mensch im Krankenhaus liegt und amputiert werden soll, ist der Gedanke an die verschiedenen Möglichkeiten einer prothetischen Versorgung fast das letzte, woran er denkt und womit er sich beschäftigt.
GG: Es findet also keine Aufklärung über die verschiedenen Möglichkeiten einer Prothesenversorgung statt?
CM: In den meisten Fällen nicht. Normalerweise finden erste Berührungen mit Prothesenteilen nach einer Amputation statt. Dann kommt ein Orthopädietechniker in die Klinik, vermisst den Stumpf und entscheidet.
AV: Das ist einerseits natürlich in Ordnung, denn die Orthopädietechniker sind die Fachleute auf diesem Gebiet – daran wollen wir gar nicht rütteln. Aber leider wird in vielen Fällen der Mensch nicht gesehen, sondern nur der Amputierte.
GG: Der Amputierten e. V. Nord arbeitet unabhängig von wirtschaftlichen Interessen und unabhängig von Sanitäts-häusern und prothetischer Industrie. Was bedeutet das in der Praxis?
CM: Die Anpassung und Versorgung mit einer Prothese ist etwas sehr Individuelles und auch Intimes. Da spielt nicht nur das Fachwissen des Technikers eine große Rolle, sondern auch das Vertrauen auf zwischen-menschlicher Ebene.
AV: Daher ist uns sehr daran gelegen, den Menschen mit Amputation einem Techniker seines Vertrauens auswählen zu lassen. Wären wir finanziell abhängig von Herstellern oder Dienstleistern, müssten wir diese Achse zwangsläufig ignorieren und ausschließlich bestimmte Anbieter oder Hersteller empfehlen.
GG: Danke für das Interview.